Ganz abstrakt betrachtet ist das Medizinrecht die Summe der Rechtsnormen, die solche Sachverhalte regeln, an denen Angehörige der Gesundheitsberufe beteiligt sein können. Es dreht sich alles um die mittelbare oder unmittelbare Ausübung der Heilkunde, womit wir uns größtenteils im Bereich der spezialrechtlichen Vorschriften bewegen. Doch auch generelle Normen finden regelmäßig Eingang in das Gesundheitsrecht. So findet sich beispielsweise der Behandlungsvertrag im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Hier wird bereits ein „Grundproblem“ deutlich. Eine Kodifikation als vollständige Sammlung eines Rechtsgebietes – etwa ein Medizingesetzbuch – existiert nicht. Ein Überblick über die relevanten Rechtsquellen ist im Gesundheitsrecht daher zwingend notwendig. Verschaffen wir uns einen systematischen Überblick:
Normative Rechtsquellen
- Recht der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung (überwiegend Sozialgesetzbuch V und Versicherungsvertragsgesetz),
- Recht der gesetzlichen und der privaten Pflegeversicherung (SGB XI und Versicherungsvertragsgesetz),
- Recht der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung (SGB VII und Versicherungsvertragsgesetz),
- Recht der medizinischen Behandlung (BGB, insbesondere § 630a ff. BGB),
- Strafrecht (Strafgesetzbuch),
- Berufsrecht der Ärzte, Zahnärzte und anderer Heilberufe (Heilberufegesetze),
- Vertrags- und Gesellschaftsrecht der Heilberufe (z. B. BGB, HGB, GmbH-Gesetz),
- Krankenhausrecht (Krankenhausfinanzierungsgesetz, Krankenhausentgeltgesetz),
- Arzneimittel- und Medizinprodukterecht (Arzneimittelgesetz, Medizinproduktegesetz),
- Apothekenrecht (Apothekengesetz),
- spezifische Besonderheiten des Prozessrechts (ZPO),
- Weitere Spezialgesetze (z. B. Gendiagnostikgesetz, Transfusionsgesetz, Bundesärzteordnung, etc.).
Quellen des Medizinrechts finden sich somit auf allen Ebenen der allgemeinverbindlichen Normenpyramide im föderalen Staat (vgl. Lektion 1.6). Denn der Erlass von allgemeinverbindlichen normativen Quellen des Medizinrechts steht gemäß Art. 74 GG sowohl dem Bund als auch den Ländern zu. Dazu gesellen sich die zugehörigen Rechtsverordnungen, die ebenfalls Gesetze im materiellen Sinne sind, z. B.:
- Gebührenordnung für Ärzte,
- Approbationsordnung für Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte, Apotheker,
- Strahlenschutzverordnung,
- usw.
Unterhalb der Ebene der Parlamentsgesetze und der darauf fußenden Verordnungstätigkeit der Exekutive regeln vertragliche Vereinbarungen Rechte und Pflichten der insbesondere an der Versorgung vom GKV-Versicherten beteiligten Gesundheitsberufe. Diese Verträge sind damit nahezu gesetzesgleich. Ein Beispiel wäre der Bundesmantelvertrag der Ärzte. Er gilt für die komplette kassenärztliche Versorgung in Deutschland und wird zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) geschlossen.
Satzungsrecht
Dem Landesrecht obliegt die Regelung der Berufsausübung der meisten Gesundheitsberufe. Über die Kammergesetze werden die Kammern als Selbstverwaltungskörperschaften zum Erlass rechtsverbindlicher Satzungen ermächtigt (Ermächtigungsgrundlage). So können diese Berufspflichten, Weiterbildungsregelungen, etc. erarbeiten, welche nach Genehmigung durch die Aufsichtsbehörden rechtsverbindlich werden. Dieses Themengebiet wird im Kurs zur Gesundheitsverwaltung ausführlicher behandelt.
Richterliche Spruchpraxis
Was grundsätzlich unter Richterrecht zu verstehen ist, haben wir in Lektion 1.4 bereits gesehen. Streng genommen gilt dieses geschaffene Recht nur für den ausgeurteilten Einzelfall. Doch haben wir ebenfalls gesehen, dass sich Gerichte zumeist an die Spruchpraxis der obersten Gerichte anlehnen. Dies ist auch im Gesundheitsrecht von besonderer Bedeutung. So haben Urteile des Bundesgerichtshofes oder des Bundessozialgerichtshofes regelmäßig „Schockwellen“ für das System zur Folge. Aktuelle Urteile wirken somit regelmäßig auf die Praxis der Gesundheitsberufe und sind ebenfalls eine wichtige Rechtsquelle.
Leitlinien
Ein wichtiges Thema insbesondere für „frische“ Absolventen ist das Thema Leitlinien. Mit großem Enthusiasmus gestartet, wartet der Praxisschock. „Das ist nicht leitlinienkonform!“ Das klingt fast als wären Leitlinien Gesetze. Das sind sie allerdings nicht. Es bleiben bloße Empfehlungen, die rechtlich nur indirekt und unter bestimmten Umständen relevant werden können. Denn sie prägen den sog. berufstypischen Standard mit.
„Maßgebend ist der Standard eines erfahrenen Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gesicherte, von einem durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können.”
BGH, NJW 2000, 2754, 2758.
„Standard in der Medizin repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“
Deutsch/Spickhoff, MedizinR, Rn. 213 ff.
Es ist somit das Zusammenspiel der Leitlinien (wissenschaftliche Erkenntnis), gesundheitsberuflicher Erfahrung und der professionellen Akzeptanz das zum berufstypsichen Standard führt. Dieser soll dem einzelnen Berufsangehörigen eine Orientierungshilfe sein und bei dessen Nichteinhaltung im Schadensfall die Verantwortlichkeit begründen. Nicht was in den Leitlinien steht, ist entscheidend, sondern was sich in der Versorgungsrealität durchsetzt und etabliert.
Wichtig zu verstehen ist, dass Leitlinien und Standard nicht deckungsgleich sind. In der Praxis nähern sie sich jedoch an. Während die Versorgungsrealität neuen Leitlinien regelmäßig hinterherhinken dürfte, so kann sie alten Leitlinien längst enteilt sein.